Warnung des Altkanzlers Helmut Schmidt kritisiert deutschen "National-Egoismus"

Altkanzler Schmidt (bei der Preisverleihung in Münster):

Altkanzler Schmidt (bei der Preisverleihung in Münster): "Proaktiv handeln und agieren"

Altkanzler Schmidt hat den Preis des Westfälischen Friedens erhalten. In seiner Dankesrede kritisiert er den deutschen "National-Egoismus": Kanzlerin, Bundesbank und Verfassungsgericht sollten sich nicht als Zentrum der EU gerieren. Merkel und Hollande demonstrierten währenddessen Einigkeit.

Münster/Ludwigsburg - Es sei eine "unerwartete Ehrung" für ihn, sagte Helmut Schmidt, 93, an diesem Samstag vor rund 250 Gästen im Münsteraner Rathaus. Für sein lebenslanges Engagement für ein friedlich geeintes Europa wurde der Altbundeskanzler mit dem Preis des Westfälischen Friedens ausgezeichnet.

Seine Dankesrede nutzte Schmidt zur teils harschen Kritik an Deutschlands Umgang mit der Schulden-Krise in Europa: "Das deutsche Bundesverfassungsgericht, die Bundesbank und vorher schon Bundeskanzlerin Merkel gerieren sich zum Teil zur Verzweiflung unserer Nachbarn als das Zentrum Europas."

Schmidt, der gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Valery Giscard d'Estaing die Weichen zur "europäischen Integration" stellte, wie es in der Laudatio hieß, warnte: "Die Europäische Union könnte auch an den Deutschen scheitern." Denn Deutschland lasse die anderen Mitgliedsstaaten zu sehr spüren, dass es die ökonomisch stärkste Macht des Kontinents sei. Der Sozialdemokrat wies darauf hin, dass ein Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland heute "leider Gottes von national-egoistischer Sichtweise" geprägt sei.

"Wir Deutschen dürfen nie Ursache werden für Stillstand"

Schmidt kritisierte in seiner Rede auch die Institutionen der Europäischen Union. Die EU habe "keine wirksamen" Fortschritte bei dem Versuch einer europäischen Verfassung gemacht, sagte er. Die Brüsseler Kommission habe "20.000 tüchtige Mitarbeiter", aber sie seien mit zweitrangigen Aufgaben befasst. "Allein die Europäische Zentralbank funktioniert zufriedenstellend", betonte Schmidt und spielte damit auf den von der Europäischen Zentralbank angekündigten unbegrenzten Kauf von Staatanleihen in Ländern der Euro-Krise an.

"Wir Deutschen", so Schmidt, "dürfen nie und nimmer Ursache werden für Stillstand, für Verfall oder Zerfall des großen Projekts der Europäischen Union." Die ganze Welt warte darauf, dass Europa endlich mit einer Stimme spreche. Dazu gehöre der unbedingte Wille zur Zusammenarbeit mit den Franzosen und allen anderen Nachbarn. "Wir müssen nicht nur Fürsprecher der Europäischen Union sein. Sondern wir müssen - weit darüber hinaus - proaktiv handeln und agieren."

Merkel und Hollande bekräftigen deutsch-französische Freundschaft

Schmidt teilt sich den Preis mit der Kinderhilfsorganisation "Children for a better World". Die Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe, die den höchstdotierten deutschen Friedenspreis seit 1998 alle zwei Jahre vergibt, schüttete ein Preisgeld von jeweils 50.000 Euro aus. Die Ehrung soll an die 1648 geschlossenen Verträge zum Westfälischen Frieden in Münster und Osnabrück erinnern, die den Dreißigjährigen Krieg beendeten. "Wenn heute eine militärische Auseinandersetzung zwischen den Staaten Europas nicht mehr denkbar ist, dann verdanken wir dies Menschen wie Helmut Schmidt", sagte Laudator Reinhard Zinkann, Vorsitzender der Gesellschaft. Zu früheren Preisträgern zählen der ehemalige Uno-Generalsekretär Kofi Annan und Altkanzler Helmut Kohl(CDU).

Bei der Verleihung in dem historischen Gebäude fiel auf, dass Schmidt, der sich gegen Rauchverbote im öffentlichen Raum gerne hinwegsetzt, nicht rauchte. Während der knapp zweistündigen Veranstaltung, die Schmidt mit seiner neuen Lebensgefährtin Ruth Loah besuchte, griff der Kettenraucher nicht zur Zigarette.

Gefallen haben dürfte dem streitbaren Altkanzler, dass sich fast zur gleichen Zeit in Ludwigsburg die von ihm ermahnte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem französischen PräsidentenFrançois Hollande zum Gedenken an die historische Rede an die Jugend von Charles de Gaulle traf. Beide Staatschefs bekräftigten die deutsch-französische Freundschaft und den Willen, gemeinsam an Europas Einheit zu arbeiten. Deutschland und Frankreich müssen nach Ansicht Hollandes noch enger zusammenrücken. "Wir bilden das Herz Europas", sagte er bei dem Festakt.

"Lassen wir uns von dieser Zukunftsfreude anstecken"

Das geeinte Europa sei das Schicksal beider Länder, so Hollande. Es dürfe nicht nur im Finanz- und Bankensektor zusammenwachsen, sondern müsse auch eine politische und soziale Union bilden. Er sei zuversichtlich, dass Europa nicht nur die derzeitige wirtschaftliche, sondern auch die moralische Krise überstehe. Hollande erinnerte daran, dass sich Deutschland und Frankreich einst "barbarisch bekämpft" hatten. Heute seien beide Länder manchmal wie ein altes Paar, das schon lange zusammen sei und manchmal etwas die Orientierung verliere. Der Staatspräsident mahnte, die "Flamme" der Freundschaft müsse immer wieder entzündet werden.

Merkel betonte vor 650 geladenen Gästen und mehreren tausend Besuchern, de Gaulles 1962 gehaltene Rede sei ein Vermächtnis an die Jugend beider Länder. Sie sei von Optimismus geprägt gewesen: "Lassen wir uns auch heute und in Zukunft von dieser Zukunftsfreude anstecken." Aktuell sei allerdings eine nachhaltige "Gesundung" Europas notwendig. Der Euro-Raum müsse stabilisiert werden. An die Adresse der Jugendlichen gerichtet sagte sie: "Das Europa der Zukunft liegt in Euren Händen!" Auf Französisch fügte Merkel hinzu: "Vive la jeunesse franco-allemande, vive la jeunesse européenne."

Der französische Präsident De Gaulle hatte seine berühmte Ansprache einst frei und auf Deutsch gehalten. Im darauffolgenden Jahr wurde der Élysée-Vertrag unterzeichnet. Hollande sagte nun, ebenfalls auf Deutsch: "Junge Herren aus Deutschland, aus Frankreich, aus ganz Europa: Ihre Rolle ist es nun, dem europäischen Traum Wirklichkeit und Zukunft zu verleihen. Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!"

bor/dpa/dapd