Körper ist in Europa, Gedanke ist in der Türkei

Vor und nach dem Referendum in der Türkei ist die türkische und kurdische Migrantenfrage in Deutschland unbeabsichtigt in den Medien und in der hiesigen Gesellschaft in den Vordergrund geraten.

Die türkischen Parteien haben mit ihren politischen Zielen auf deutschem und europäischem Boden Wahlkämpfe ausgetragen. Obwohl in Europa zivilgesellschaftliche Verhältnisse herrschen, hat insbesondere die AKP diese in ihrem Auslandswahlkampf überhaupt nicht berücksichtigt. Sie hat für ihre Politik der Aufhebung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und den Abbau der Demokratie, die sie in der Türkei seit dem Putschversuch im Sommer 2016 in der Türkei rigoros in die Tat umsetzt, in Veranstaltungen geworben.  Sie hat ihr Vorgehen sogar offen als „Säuberung“ bezeichnet und erklärt, dass sie sich nicht gegen die Wiedereinführung der Todestrafe sperrt. Mit diesem der Demokratie in Widerspruch stehendem Wahlprogramm hat sie die türkische und kurdische Gesellschaft tief gespalten. Damit hat sie auch erreicht, dass die Einwanderungs-problematik der MigrantenInnen in Deutschland noch mehr in den Hintergrund geraten ist.

Die türkischen Politiker haben damit einmal mehr gezeigt, dass sie die Probleme ihrer in Europa bzw. im Ausland lebenden Bürger überhaupt nicht interessiert. Wenn es um die Durchsetzung ihrer eigenen auch undemokratischen Interessen geht, dafür sind die in der Diaspora lebenden Staatsbürger gut genug, weil die im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger aufgrund der fehlenden Bildung oder Kenntnisse der tatsächlichen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren Heimatländern leichter für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und Mehrheitsbeschaffer sind. Es ist offensichtlich, dass das Referendum nur mit ihren Stimmen für die AKP günstig ausgefallen ist.

Die EinwandererInnen leben in der BRD und haben hier z. B. auch ihre Moscheen. Die Moscheen sind Anhänger verschiedener politischer Richtungen. Es gibt keine Moschee, in die jeder hineingehen und seiner religiösen Pflichten nachgehen kann, ohne einer bestimmten politischen Richtung angehören zu müssen. Man darf keiner anderen Meinung sein. Das ist im Rahmen dieses Referendums wieder einmal sehr deutlich geworden. Eine Moschee ist eigentlich ein Gotteshaus, in dem der/die Gläubige seine/ihre religiös auferlegte Pflicht erfüllen möchte bzw. erfüllen muss.

Der Islam und sein Buch der Koran schreibt ihm/ihr keine politische Richtung bzw. Einstellung vor. Aber der unter den deutschen demokratischen Gesichtpunkten gegründete hiesige Moscheeverband, der alle Rechte aus der deutschen Verfassung genießt, in das eigentlich auch die Religionsfreiheit der Betenden fällt, macht einen Unterschied. Wie rechtfertigen das die Moscheeverbände?  In bestimmten Moscheen gibt es Imame bzw. Personal, die den Betenden keinen Zutritt gewähren, wenn sie nicht der politischen Richtung der Moscheeleitung folgen. Betende wurden z. B. in den DITIB-Moscheen in Hannover der Moschee verwiesen, weil man der Ansicht war, dass der bzw. die Betende angeblich dem sog. FETÖ (die Gülen-Bewegung wird in der Türkei seit dem Putschversuch im Jahr 2016 als terroristische Organisation FETÖ = Fethullah Gülen Terör Örgütü bezeichnet) angehört. Es spielt dabei keine Rolle, ob nachgewiesen ist, dass eine terroristische Organisation vorliegt oder nicht. Es spielt dabei auch keine Rolle ob der/die Betende tatsächlich AnhängerIn ist oder nicht. So wie die AKP-Regierung sind die Moscheeverbände nicht daran interessiert, dass die türkischen, kurdischen oder anderen ausländischen Bürger hier in der deutschen Gesellschaft andere Probleme haben, die man als Minderheit gemeinsam angehen muss. Dass die MigrantenInnen sich hier schulisch, beruflich und gesellschaftlich mit der deutschen Gesellschaft mitentwickeln müssen, um nicht sozial abzusteigen, um nicht in die Arbeitslosigkeit, Altersarmut, Kriminalität etc. zu geraten. Diese Themen scheinen bei diesen Verbänden noch nicht angekommen zu sein. Sie leben hier so, als würden sie in der Türkei leben und verteidigen hier die türkische Politik, obwohl diese für sie nichts tut und obwohl nicht diese, sondern die deutsche Politik ihren Lebensweg bestimmt. Das ist paradox.

 Die junge 2. und  3 . Generation, die in Europa geboren, hier zur Schule gegangen und von null an ihren Lebensmittelpunkt hier gegründet hat, wird auch für die türkische Politik instrumentalisiert. Sie wird auf diese Weise von der europäischen Politik und Gesellschaftsentwicklung versucht, fernzuhalten. Sie engagiert sich nicht für hiesige Probleme und Lösungen.  

In der Türkei gibt es zur Zeit nur drei Richtungen bzw. drei Schubladen, in die man gehört. Man ist entweder Anhänger der AKP, der FETÖ oder der PKK. Wenn man nicht für die AKP ist, wird man automatisch in die Gruppe der FETÖ oder PKK zugeordnet und gilt dann als Feindbild und Landesverräter. Die türkischen und kurdischen EmigrantenInnen in Europa werden auch in eine dieser Schubladen eingeordnet, durch die Vereine, Verbände und andere Organisationen.

Wenn europäische Politiker oder Parteien die AKP-Regierung kritisieren, so werden sie sofort zu Feinden der Türkei erklärt. Deutsche Politiker mit türkischem oder kurdischem Emigrationshintergrund werden als Vaterlandsverräter beschimpft, obwohl diese sich z. B. nur mit der Einwanderungsfrage beschäftigen und in der Türkeifrage nur um die Einhaltung der demokratischen Werte und Normen bitten.

Solche Verhaltensweisen der türkischen politischen Verantwortlichen schaden den MigrantenInnen in den europäischen Ländern. Z. B. ist in Deutschland wegen des türkischem Referendumwahlkampfes auf deutschem Boden die Debatte zur Aufhebung der doppelten Staatsbürgerschaft für die hier in Deutschland geborenen MigrantenInnen entfacht worden.

Der Eindruck, dass die AKP-Regierung kein Interesse daran hat, dass ihre in Europa lebenden türkischen und  kurdischen Staatsbürger sich in dem Land, in dem sie nunmehr leben, integrieren und dort einen sozialen Status erreichen, wird damit bestätigt.

Die „Gastarbeiterkultur“, die die deutschen politischen Verantwortlichen damals den EmigratenInnen auferlegt hatten – ein Gast ist ein Paar Tage da und geht dann wieder weg – scheinen die türkischen politischen Verantwortlichen wieder aufleben lassen zu wollen. Die AKP-Politiker treten hier auf und rufen ihre hiesigen Anhänger dazu auf, sie bei der politischen Säuberung „ihres“ Landes zu unterstützen. Dass viele der hiesigen AKP-Anhänger bzw. „Einmann-Regierung-Anhänger“ die politischen Verhältnisse und die gesellschaftliche Situation in der Türkei nicht mehr oder gar nicht kennen, interessiert sie auch nicht. Die hier lebenden türkischen und kurdischen Emigranten steigen in diesen Zug und leben in dem Moment auch so, als seien sie kein Bestandteil der hiesigen Gesellschaft. Dass sie eigentlich in der Türkei auch nicht Bestandteil der dortigen Gesellschaft mehr sind, das scheinen sie nicht zu erkennen oder zu verdrängen. Ihr Körper lebt zwar in Deutschland bzw. in Europa, ihr Geist aber in der Türkei. Auch bei denjenigen ist das der Fall, die in der Türkei gar nicht wählen dürfen, weil sie die türkische Staatsbürgerschaft nicht mehr haben. Sie haben sich aber auch auf den Wahlkampfveranstaltungen befunden und für die AKP-Politiker mitgejubelt.

Die verantwortliche Politik in Europa und in Deutschland muss diese EmigrantenInnen, die mittlerweile ein Bestandteil der hiesigen Gesellschaft geworden sind, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen, auffangen, ihnen Verantwortung und Chancen geben, sich hier zuhause zu fühlen und sich hier mit der Politik bzw. mit den verschiedenen Parteien, Organisationen oder Verbänden verbunden zu fühlen und sich gemeinsam für die Werte und Ziele der Verfassung einzusetzen. Von der europäischen und deutschen politischen Seite ist das wünschenswert. Von der türksichen politischen Seite ist wünschenswert, ihren Wahlkampf nur auf ihrem eigenen Grund und Boden auszutragen und auch in ihrem Land die demokratischen Werte und Menschenrechte zu beachten.