Das Exil ist eine schmerzhafte Erfahrung. Aber sie öffnet auch neue Wege für uns alle.

Der vorliegende Text ist die "Rede zum Exil", die der Autor Ende Oktober beim Exile Media Forum der Körber-Stiftung in Hamburg gehalten hat.

Ich kam nach Deutschland mit dem Pulvergeruch, der seit dem Attentat an mir haftet.

In meinem Jackett sitzt noch der Ruß meiner verbrannten Bücher.
In meinen Ohren hallt die Stimme des Staatsanwalts nach, der lebenslange Haft für mich forderte, an meiner Haut klebt noch die Feuchtigkeit des Gefängnisses, in dem ich saß.
Der Anblick der Menge, die "Tod für die Verräter" rief, steht mir vor Augen.
Im Herzen trage ich den Kummer um meine Lieben, die ich zurücklassen musste.
Sie sehen diese Spuren nicht, denn sie sind in meinem Geist eingeschlossen. Ich halte sie hinter einem lächelnden Gesicht verborgen.

Ich komme aus einem gewaltigen Beben her. Manche von uns sind unter Trümmern verschüttet, einige versuchen noch, sich herauszuarbeiten. Wer herauskommt, trägt den Schmerz um jene in sich, die es nicht schaffen.
Hatten wir das erwartet?
Nein.
Erst jetzt sehen wir deutlich, dass alle Anzeichen schon vorher da waren. Bis vor fünf Jahren waren wir noch überzeugt davon, die Finsternis, die sich auf uns legte, mit unserem Licht überwinden zu können.
Doch der Reihe nach brachte man die von der nahenden Gefahr kündenden Intellektuellen bei uns um, zerbrach unsere Brillen.
Man schoss auf die jungen Leute, die für den Erhalt eines Parks aufstanden. Vor allem auf die Augen schossen sie, machten uns blind.
Sie kennen die Geschichte vom Frosch im kochenden Wasser. Damit wir das heiße Wasser nicht bemerken und reflexartig aufspringen, schmorten sie uns in einem Topf, den sie nach und nach erhitzten. Als wir es gewahr wurden, war es zu spät. Da waren wir schon verbrannt.
Das Böse lag schon auf der Lauer, wartete in einem mit Bajonetten, mit der Angst vor Sünde und der Sorge der Ungehörigkeit verriegelten Käfig auf seinen Tag.
Dann hob ein düsterer Wind an und brach des Käfigs Riegel auf. Das Böse wurde befreit, wurde gepriesen und gefördert. "Das Böseste" wurde zum Vorbild gekürt.
Was gestern noch als Sünde und ungehörig galt, ist heute die Norm.
So begann die Herrschaft des Bösen.
Den "Guten" fiel es zunächst schwer, das zu einzusehen. Wer Einspruch erhob, wurde in den Käfig gesperrt, in dem zuvor die Bösen steckten. Wer draußen blieb, zog sich meist eingeschüchtert in seinen Winkel zurück. Es war einfacher, den Guten Sorglosigkeit und Unachtsamkeit vorzuwerfen, als das Böse zu bekämpfen.
Binnen fünf Jahren wurden wir zu Exilanten im eigenen Land.

* * *

Im Grunde ist jeder Dissident von vornherein ein Exilant.
Ihr Exil beginnt in dem Augenblick, da Sie die Grenzen der Mehrheitsüberzeugung in der Gesellschaft, des vom Staat vorgezeichneten Rahmens, der allgemeinen Akzeptanz der Massen strapazieren.
Kaum sagen Sie "Nein", haben Sie den Stempel "Verräter" weg.
Leben Sie in einer Weltgegend mit niedriger Toleranzschwelle und starken autoritären Tendenzen, wissen Sie im Voraus, dass Sie sich auf pechschwarze Einsamkeit und eine Reihe von Strafmaßnahmen einstellen müssen: Befremden, Diskriminierung, Verleumdung, Bedrohung, Belästigung, Verhaftung, gar darauf, auf ewig zum Schweigen gebracht werden. 
Dieses Wissen veranlasst manche zu schweigen, andere bringt es hinter Gitter, ins Exil, gar auf den Friedhof.
Der armenische Journalist Hrant Dink, einer der letzten Vertreter eines Volkes, dem die ungeheuerlichste Vertreibung des letzten Jahrhunderts angetan wurde, fragte, bevor man ihn ermordete: "Wann hätten wir je einen Baum gepflanzt und seine Früchte ernten können?"

Um diese Früchte ernten zu können, verleugnen sich manche lieber selbst, als aus ihrer Erde gerissen zu werden. Auch das ist schwierig. Beim ersten Weg gibt es kein Zurück, der zweite aber birgt immerhin die Aussicht auf Rückkehr.
Manche verlassen lieber das Land, das ihre Ideen nicht erträgt, als diese Ideen aufzugeben. Der Dichter Murathan Mungan brachte auf den Punkt, wie es um das Gemüt der Fortgehenden bestellt ist:
"Nicht wer geht, ist derjenige, der verlässt, sondern der, der bleibt …"
"Geistiges Exil" definierte Theodor Adorno, auch er ein Exilant, als sich nicht zu Hause fühlen, obwohl man zu Hause ist. 
Man mag zu Hause reichlich Gewalt erleben und unglücklich sein, dennoch gibt es dort Stabilität. Zuhause ist das Vaterhaus, der Schoß der Mutter. Ein sicherer Hafen, in dem Sie bei heftigen Stürmen Zuflucht nehmen können, wo Sie finden, was Sie suchen, wenn Sie die Hand ausstrecken. 
Stellen Sie sich bitte kurz vor, Sie hätten kein Zuhause, in das Sie zurückkehren können, wenn Sie nachher hier hinausgehen. Was Sie ein Leben lang unter Tausend Mühen zusammengetragen haben, ist Ihnen genommen. Der gemütliche Sessel, der die Form Ihres Körpers angenommen hat, Ihr bequemes Bett, die kostbare Bibliothek, Ihre Katze, der Hund, alles ist fort. Alles mussten Sie auf einen Schlag zurücklassen und ins Nichts springen, ohne sehen zu können, wo es endet.
Und das ist der Preis allein dafür, dass Sie sich nicht gebeugt haben, dass Sie statt der Bequemlichkeit des Zustimmens das Risiko des Widersprechens wählten.
Hätten Sie es vorgezogen, sich zu beugen, um diesen Preis nicht zahlen zu müssen?
Unsere Tragödie liegt darin begründet, diese Frage mit Nein beantwortet zu haben.

Die Courage, den Massen, die andächtig der Regierungspropaganda lauschen, zu sagen: "Das sind doch Lügen! Ihr fliegt gar nicht, vielmehr stürzt ihr in den Abgrund!", zieht von vornherein Strafe, Einsamkeit, Exil nach sich.
"Du gehörst hier nicht hin", ist der erste Satz, den Sie zu hören bekommen werden.
Das Schlimme daran ist, dass dieser Satz Sie auch dort erwartet, wohin Sie gehen werden.
Nach einer Weile werden Sie selbst daran glauben, ein eingefleischter Fremder zu sein – und auf Stefan Zweigs Satz kommen:
"Ich gehöre nirgends mehr hin."

Im vergangenen Frühjahr besuchte ich eine Zweig-Ausstellung in Luxemburg. Gleich beim Eintreten fielen mir Pappkartons auf. Vermutlich wird die Ausstellung gerade abgebaut, dachte ich zuerst, doch dann ging mir auf:
Das waren notgedrungen die Koffer eines Schriftstellers im Exil, der gezwungen war, immer wieder seine Sachen zu packen. Jetzt dienten sie als Vitrinen einer Ausstellung über sein Leben.
Am Ende seiner Tagebücher schrieb Zweig, die Sachen seien gepackt, er sei bereit: 
"Es ist vorbei, Europa erledigt, unsere Welt zerstört. Jetzt sind wir erst wirklich heimatlos." 

* * *

Der Exilant nimmt das Leben, das er in seinem Land gelebt hat, seine zensierten Ideen, seine verbotene Kunst mit, wohin er geht. 
Das türkische Wort für Exil und Exilant lautet sürgün. Es hat noch eine Nebenbedeutung: frisch austreibender Spross.
Es mag dem Exilanten gelingen, dort, wohin er geht, neu auszutreiben, zu erblühen, ein günstigeres Klima zu finden, doch wie bei jeder von der Wurzel gebrochenen, aus ihrem Boden, ihrer natürlichen Flora gerissenen Pflanze ist ungewiss, ob er in der Erde, in die er umsiedelt, Wurzeln schlagen kann. Entweder behauptet er sich und trägt Früchte, oder er verwelkt und vergeht. Dazwischen liegt noch die Gefahr, eine Gewächshauspflanze zu werden.
Für alle Varianten finden sich in der Geschichte Beispiele.

Nâzım Hikmet, der größte Dichter der  Türkei, musste nach jahrelanger Haft sein Land verlassen und wurde ausgebürgert. Mit der Sehnsucht nach der Heimat im Herzen starb er im Exil.
Yılmaz Güney, der beste Filmregisseur der Türkei, musste nach jahrelanger Haft sein Land verlassen und wurde ausgebürgert. Mit der Sehnsucht nach der Heimat im Herzen starb er im Exil.
Ahmet Kaya, einer der beliebtesten Musiker der Türkei, musste, als "Verräter" abgestempelt, sein Land verlassen. Mit der Sehnsucht nach der Heimat im Herzen starb er im Exil. 
Heute werden alle drei in ihrer Heimat als Künstler hoch geachtet.
Ihre Gedichte, ihre Filme, ihre Lieder sind omnipräsent.
Die Türkei ist ein Meister darin, ihre rebellischen Kinder zu verdammen und später, wenn sie in anderen Ländern begraben liegen, ihre Gräber mit Heldenplaketten zu schmücken.

Erging es nicht Thomas Mann, den die Nazis ausbürgerten, ebenso?
Im letzten Jahr, als ein Lkw-Fahrer in der Türkei seine Frau bei der Polizei anzeigte, weil sie Erdoğan beleidigt habe, musste ich an Thomas Mann denken. Er schrieb, er wünsche sich, das deutsche Heer würde den Krieg verlieren. Bekämen seine Söhne diese Zeilen in die Hand, wären sie gezwungen, ihn bei der Gestapo anzuzeigen. Das allein genüge doch, um das Ausmaß der Katastrophe zu verdeutlichen.
Das Böse ist eine Krankheit, die selbst jene infizieren kann, die uns am nächsten stehen.
Sie folgt uns, selbst wenn wir ans andere Ende der Welt gehen.
Ist sie nicht Zweig gefolgt? Hat sie ihn nicht im denkbar entlegensten Winkel der Welt eingeholt?
Ich zitiere noch einmal aus seinen Tagebüchern. Acht Monate, bevor er Hand an sich legte, schrieb er:
"Die Hakenkreuzflagge auf dem Eiffelturm! Hitlersoldaten als Garde vor dem Arc de Triomphe. Das Leben ist nicht mehr lebenswert. Ich bin fast 59 Jahre und die nächsten werden grauenhaft sein – wozu alle diese Erniedrigungen noch durchmachen."
Sie können sich vorstellen, wie sehr diese Zeilen jemanden wie mich erschüttern, der bald 59 sein wird, dessen Habseligkeiten in Pappkartons verstaut sind, der mit Entsetzen den Aufstieg des Populismus in seinem Land und in der ganzen Welt beobachtet.

Noch heute können wir Lehren aus Zweigs Tragödie ziehen:
Der Exilant hofft, in dem Land, in das er geht, Freiheit und Frieden zu finden. Vor seiner Tür soll es keine Schüsse mehr geben und keine Bedrohung durch die Polizei. An seinem Stift keine Fesseln, vor seiner Sprache keinen Riegel.
Doch so ist es nicht: Die Wolken aus Ihrem Herkunftsland verfolgen Sie und verdunkeln die Sonne auch dort, wo Sie Zuflucht suchen.
Manchmal lassen sie Sie auch innerlich kapitulieren:
Eine der Fesseln an Ihren Füßen sind die Zurückgelassenen. Jeder mutige Satz, den Sie aussprechen, freut Sie, gefährdet aber Ihre fernen Angehörigen. Zwischen den Seiten der Biografien der meisten Exilanten, die irgendwann die Segel strichen, finden sich die Spuren ihrer als Geiseln genommenen Angehörigen.
Ein anderer Riegel vor der Sprache ist die Hoffnung auf Rückkehr. Jeder Satz der Opposition aus Ihrem Mund stößt diese Hoffnung weiter in die Ferne, trennt Sie Wort für Wort weiter von dem Territorium, auf dem Sie geboren sind.
Manche meinen, Schweigen oder Gehorsam würden die Türen zur Rückkehr öffnen, doch das ist ein Irrtum. Kehrt man heim, ist weder der Ort, an den man zurückkehrt, derselbe, den man verließ, noch ist der Heimkehrende derselbe, der einst fortging.
Mit einem bitteren türkischen Spruch kurz gesagt:
"Es kann auch sein, dass man fortgeht und nicht heimkehrt, oder heimkehrt, aber nicht wiederfindet."

* * *

Kommen wir zum Zufluchtsort.
Der Ort, an den der Exilant geht, ist ein Buch mit sieben Siegeln. Er kennt den Weg zum Gipfel nicht, weiß nicht, wo man sich mit Schlamm besudelt. Die Sprache ist fremd, er kann nicht fragen. Am schlimmsten ist die Zeit, bis er unter Schmerzen und Wunden einen Platz gefunden hat. Einerseits wird er voller Sehnsucht verweht wie ein vom Zweig gerissenes Blatt, andererseits muss er den Kampf mit der Fremde aufnehmen.
Da ist Isolation ohne den Komfort eines Gefühls von Zugehörigkeit unvermeidbar.
Denn wie an dem Ort, den er verließ, ist er auch hier ein Fremdling. Das Gefühl eines Provisoriums erlaubt ihm nicht, richtig anzukommen. Von der Gesellschaft diskriminiert zu werden, beschämt zu werden, weil er anders ist, verachtet zu werden, weil er nicht willkommen ist, macht ihn unglücklich. Unglücklichsein öffnet der Depression Tür und Tor. Dabei hat ein Geflüchteter nicht das Recht, unglücklich, pessimistisch oder krank zu sein. Um auf dem neuen Boden Fuß zu fassen, ist er gezwungen, seinen Kummer in sich zu vergraben, noch einmal ganz von vorn zu beginnen, sein Leben neu aufzubauen, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, zugleich aber auch Wasser zum Löschen des Feuers in seinem Land herbeizuschaffen und nach einer Lösung für die daheimgebliebenen Angehörigen zu suchen.
Bleibt er in enger Verbindung zu seinem Land, läuft er wie ein unablässig in den Rückspiegel starrender Autofahrer Gefahr, einen Unfall zu bauen, weil er nicht sieht, was vor ihm liegt.
Wirft er dagegen gar keinen Blick zurück, schwankt er, von den Wurzeln gerissen, bald sinnlos umher. 
Er muss nach vorn schauen, dabei aber, wie ein guter Autofahrer, ständig auch im Blick behalten, was hinter ihm geschieht. Bei Verkehrsverhältnissen, die er nicht kennt, ist das, allein und für jeden Fehler verflucht, ungeheuer schwierig.
Manche gehen nicht mehr auf die Straße und verkriechen sich in unheilbarer Melancholie.
Mancher stürzt sich zornig ins Verbrechen.
Nur wenigen gelingt es, sich im gnadenlosen Verkehrschaos auf den Beinen zu halten.

* * *

Das 20. Jahrhundert scheint die Erdanziehungskraft aufgehoben zu haben. Die Menschheit ist in alle vier Winde zerstreut wie von einer gerissenen Kette geschleuderte, herrenlose Perlen. Im großen Sturm hat es manche von uns in andere Weltgegenden verschlagen, manche ins Nichts.
Dieses verfluchte Erbe setzt sich verstärkt auch im 21. Jahrhundert fort.
Die Anzahl der Menschen, die vor Krieg, Gewalt oder aus anderen Gründen aus ihrer Heimat flüchten, ist auf 65 Millionen gestiegen. Alle drei Sekunden ist ein Mensch gezwungen, sein Heim zu verlassen. Die Hälfte der Flüchtenden sind Kinder. 84 Prozent sind in Entwicklungsländern unterwegs, sind also gar nicht hier im reichen Europa. Europa hält jene, die vor den Kriegen, in die es Waffen verkauft, fliehen und an seine Türen klopfen, hinter Mauern auf Distanz. Die Tore fest verschlossen, hat es sich in Sicherheit gebracht. Es gibt Leuten wie Tayyip Erdoğan Geld, damit sie in fernen Regionen Lager errichten. Es verschließt die Augen davor, dass Flüchtlinge dort wie Geiseln gehalten und zur Verhandlungsmasse gemacht werden.

Die Geflüchteten aber, die es nach Europa schaffen, haben auf dem alten Kontinent eine gewaltige Veränderung angestoßen. Die Panik, ihre Arbeit, ihre Städte, ihre Lebensart zu verlieren, treibt die Massen jenen in die Arme, die noch höhere Mauern versprechen. Sollte in Deutschland morgen die AfD an die Macht kommen, schiebt sie Flüchtlinge höchstwahrscheinlich ab. Seien Sie sich aber gewiss, die meisten von Ihnen werden sich dann wie Flüchtlinge im eigenen Land fühlen.
Genau wie wir, die wir zu Flüchtlingen in der Türkei wurden.

* * *

Das Exil ist ein Minenfeld:
Es kann Ihnen zum Grab werden oder zum Thron.
Es kann Sie zum Schweigen verdammen, aber es kann auch die Fesseln Ihrer Sprache lösen. 
Der Abschied vom Regionalen kann Sie ins Nichts stürzen, aber er kann Sie auch zum Kosmopoliten machen.
Es kann sein, dass Sie vereinsamen, aber vielleicht werden Sie auch bald viele sein.
Sie können in den Ländern Ihrer Zuflucht den Unterdrückten Gefährten sein, aber es besteht auch die Gefahr, sich bei den Herrschenden unterzuhaken.
Elia Kazan zahlte im amerikanischen Exil ein halbes Jahrhundert lang den Preis dafür, sich der Hexenjagd in den 1950er-Jahren angeschlossen zu haben.
An Alexander Solschenizyn erinnert man sich heute aufgrund seiner Kritik am Archipel Gulag ebenso wie aufgrund seiner Unterstützung für die Vietnaminvasion der USA, in die er sich geflüchtet hatte.
Dementgegen ist die Frankfurter Schule eine gesegnete Frucht, die aus der Akkumulation der Exilanten aus Nazideutschland hervorging.

Noch eine andere Gefahr wartet auf den Schriftsteller im Exil: In dem Enthusiasmus und Furor, endlich der Klemme entronnen zu sein und die Ketten gesprengt zu haben, eine politische Figur zu werden. Die Politik dringt dem Schriftsteller unentrinnbar ins Blut, hindert ihn bald daran, anderes zu schreiben. Furor ist nicht immer ein Ansporn für Kreativität, er kann auch ihr Leichentuch sein.
Schwierig, aber unabdingbar für den Exilanten ist es, die Abrechnung mit der Axt, die ihn von den Wurzeln trennte, in Ideen, Kunst, Literatur zu verwandeln. Wem das nicht gelingt, wer es nicht schafft, den Ruf nach Vergeltung aus dem Herzen zu tilgen, der stirbt als ein Dissident im Exil.
Dann gibt es noch jene, die in ihr Land heimkehren, aber dort nicht wieder Fuß fassen. Das ist eine Tragödie für sich. Alfred Döblin ist ein solches Beispiel, nach dem Krieg kehrte er nach Deutschland zurück, fand hier aber nicht das erhoffte kulturelle Klima vor und ging lieber wieder ins französische Exil. 
Kehrt denn gar niemand als Held zurück?
Doch, natürlich.
Lassen Sie uns jetzt all die dunklen Wolken vertreiben und einen Blick auf die positive Seite des Abenteuers Exil werfen:
Erlauben Sie mir, hier an Ernst Reuter zu erinnern.
Als Oberbürgermeister von Magdeburg wurde er 1933 von den Nazis aus dem Amt gejagt, weil er ihnen die Stirn geboten hatte, er wurde ins Konzentrationslager gesteckt, dort geprügelt, erniedrigt und unterdrückt.
1934 verließ er Deutschland mit einem einzigen Koffer, einem noch nicht konfiszierten Pass und einer geringen Summe Geld in der Tasche. Beim Abschied sagte er den Freunden: "Wir werden jetzt zehn Jahre in die Wüste gehen, und dann kommen wir wieder."
Er ging nicht in die Wüste, sondern in die Türkei, die ihn mit offenen Armen aufnahm. Genau in der vorausgeahnten Zeitspanne, zehn Jahre lang, trug er zum Aufbau der neuen Türkei bei und engagierte sich parallel dazu für die Befreiung seines Landes. Er entwarf eine Roadmap für das Nachkriegsdeutschland. 
Nach seiner Rückkehr wurde er Regierender Bürgermeister im freien Berlin und engagierte sich beim Wiederaufbau seines Landes.
In Deutschland, wohin ich mit einem einzigen Koffer, einem noch nicht konfiszierten Pass und sehr wenig Geld in der Tasche kam, Reuters Geschichte zu lesen, macht mir Hoffnung.
Ja, das Exil ist so schwer wie Obdachlosigkeit, Heimatlosigkeit, Elternlosigkeit. Ja, das Exil ist eine schmerzhafte, entbehrungsreiche, bittere Lebenserfahrung. Aber es hat auch Aspekte, die einem Schriftsteller, einem Künstler, Akademiker, Intellektuellen oder Politiker neue Wege, neue Türen, neue Horizonte öffnen.
85 Jahre nach Reuter kommen Akademikerinnen und Akademiker aus der Türkei nach Deutschland, die aus ihren Posten vertrieben wurden, weil sie eine Friedenspetition unterzeichneten. Sie kehren eine hundert Jahre alte Migrationsbewegung um und investieren hier sowohl in die Zukunft Deutschlands wie auch in die ihres Herkunftslandes.
Journalistinnen und Journalisten, die in der Türkei keine Chance haben, für die Wahrheit einzutreten, sprechen hier laut die Fakten aus.
Die Bibliothek mit Büchern von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die aus ihrem Land vertrieben wurden, zeigt uns, dass aus all dem Leid fruchtbare Werke hervorgehen, man nennt sie Exilliteratur.
Zweifellos wird die Fluchtwelle, die die Erde in den letzten zehn Jahren geprägt hat, eine völlig neue Schriftstellergeneration und Exilliteratur hervorbringen.
Mit ihrem vom Leid geschärften Stift bleibt "Exilisch" eine der fruchtbarsten Sprachen literarischen Schaffens.

 * * *

Mein verehrter Lehrer Prof. Ünsal Oskay zitierte uns gern Adornos Satz: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen."
In Zeiten, da unser Land unerträglich geworden ist und inhaftiert wird, wer widerspricht, können wir zwei Dinge tun:
Um der Bequemlichkeit der Besitzstandswahrung willen, kann man – unter Gewissensqualen – schmutzige Deals mit dem Land, dem Zuhause eingehen, in das man hineingeboren wurde, oder man kann sich mit dem Satinband der Gleichgültigkeit die Augen verbinden. 
Adorno stellt es positiv dar, wenn der Intellektuelle zwischen den Alternativen, die Gesellschaft zu vergöttern oder sich von ihr loszulösen, in der Schwebe bleibt. Er postulierte: "Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen."
Sich ein Vaterland erschreiben – dieses Heilmittel empfahl er gegen Zweigs Unkenruf "Ich gehöre nirgends mehr hin". 
Thomas Mann dagegen verwandelte die Schwarzmalerei in provokanten Optimismus: 
"Wo ich bin, ist Deutschland!"