Seit Jahren windet sich Deutschlands Politik bei der Frage, ob der Völkermord an den Armeniern auch als solcher bezeichnet werden darf. Kurz vor dem 100. Jahrestag des Genozids geht das Hin und Her in eine neue Runde.

Am 24. April jährt sich der Beginn des Genozids an den Armeniern zum 100. Mal. Doch statt angemessenen Gedenkens gibt es Streit im Deutschen Bundestag. Eine Stunde will das Parlament am Jahrestag über das Verbrechen an den armenischen Christen auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches debattieren. Statt fraktionsübergreifender Einigkeit herrscht Dissens. Grüne und Linkspartei sprechen sich dafür aus, den Völkermord zwischen 1915 und 1916 auch als solchen zu benennen.

"Eine Entschuldigung wäre genug"

Kaum einer seiner Ahnen hat die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich überlebt. Gafur Türkays Großvater gehörte vor 100 Jahren zu den wenigen Glücklichen. Der Enkel ist heute 50 Jahre alt, er sitzt im Hof der St.-Giragos-Kirche (Surp Giragos) in der Kurdenmetropole Diyarbakir in der Frühlingssonne. Auf die Frage, wie das Leben der Nachfahren heute in der Türkei ist, antwortet er: «Wenn der Begriff «Armenier» immer noch als Beleidigung verwendet wird, können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist.»

Türkay spielt auf Recep Tayyip Erdogan an. Der Staatspräsident sagte vor seiner Wahl in das Amt im August, obwohl er Türke sei, habe man ihn schon viel geschimpft, einen Georgier zum Beispiel oder noch «hässlichere Dinge»: nämlich einen Armenier.

Türkay hegt kaum verhohlenen Groll – auch gegen Deutschland. Der 50-Jährige ist im Vorstand der St.-Giragos-Kirchenstiftung. Das größte armenische Gotteshaus im Nahen Osten war eine Ruine, bis Ende 2010 der Wiederaufbau begann. Finanziert haben ihn vor allem Armenier, die in der Türkei und zerstreut in der Welt in der Diaspora leben.

Seit zwei Jahren erstrahlt die St.-Giragos-Kirche, die deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg als Kaserne missbrauchten, in neuem Glanz. Gottesdienste gibt es trotzdem kaum. Die Gemeinde in Diyarbakir zählt nur eine Handvoll Gläubige. Zu den höchsten Festen fliegt ein Priester aus Istanbul ein, wo schätzungsweise 60 000 Armenier die heute größte Gemeinschaft in der Türkei stellen.

Diyarbakir war bis zu den Vertreibungen und Ermordung im Ersten Weltkrieg eine Hochburg der Armenier. «Anfang des 20. Jahrhunderts waren 60 Prozent der Bevölkerung Christen», sagt Türkay. «Drei Gruppen haben den Völkermord überlebt: Kinder, hübsche Mädchen und Handwerksmeister.» Sein Großvater gehörte zur ersten Gruppe. Fast alle der Überlebenden konvertierten zum Islam – weil sie dazu gezwungen wurden oder weil sie sich Schutz davon erhofften.

Der Großvater wurde vermutlich von einer kurdischen Familie als Muslim aufgezogen, Türkays Vater pilgerte sogar nach Mekka. Auch Türkay wuchs als Muslim auf, wusste allerdings nach seinen Worten schon als Kind um seine armenische Herkunft. Vor fünf Jahren kehrte er zu seinen Wurzeln zurück – und ließ sich taufen.

Immer mehr armenische Türken besinnen sich ihrer Herkunft. Nur wenige haben aber den Mut, dem islamischen Glauben den Rücken zu kehren. «Manche schämen sich», sagt Türkay. «Sie sind als Muslime aufgewachsen.» Hinzu komme, dass Armenier hundert Jahre lang «ermordet oder unterdrückt» worden seien. «Sie haben viel Angst.»

Im Jahr 2004 bekannte sich in Diyarbakir ein einziges Ehepaar offen dazu, armenisch zu sein. Heute sind es nach Schätzungen des Kurden Abdullah Demirbas, der bis vor kurzem Bürgermeister der Altstadt Diyarbakirs war, 300 bis 400 Menschen. Die meisten davon sind Muslime geblieben. Die tatsächliche Zahl der Menschen mit armenischen Wurzeln dürfte um ein Vielfaches höher liegen.

Ergün Ayik, der in Istanbul lebende Vorsitzende des Kirchenstiftung, sagt, nur 10 bis 20 dieser bekennenden Armenier in Diyarbakir hätten sich taufen lassen. Zwar habe der Wiederaufbau der St.-Giragos-Kirche dafür gesorgt, dass sich Menschen ihrer armenischen Herkunft besinnen würden. «Aber viele bleiben Muslime. Sie haben Familie, sie haben ein Leben. Es ist sehr schwierig für sie.» Armenier in der Türkei seien bis heute vorsichtig, Mitbürgern ihre Herkunft zu offenbaren. «Wenn es nicht nötig ist, sagen wir es nicht.»

Demirbas – der bei der Parlamentswahl im Juni für die HDP kandidiert – hat als Bürgermeister den Wiederaufbau der Surp-Giragos-Kirche unterstützt. Sein Engagement für die Armenier und andere Minderheiten hat ihm viel Ärger mit dem türkischen Staat eingebracht, der die Massaker bis heute nicht als Völkermord anerkennt – wie es übrigens auch Deutschland nicht tut. «Für mich war das ein Genozid und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit», sagt Demirbas. «Ich habe mich persönlich dafür entschuldigt.»

Türkay hält schon die Frage nach der Einordnung der Gräueltaten von vor 100 Jahren, die nach armenischen Angaben 1,5 Millionen Menschen das Leben kosteten, für eine Zumutung. «Wir sollten gar nicht erst darüber diskutieren», sagt er sichtlich aufgebracht. «Schon meine Großmutter sagte, dass selbst die Kühe auf der Weide wissen, dass es ein Genozid war.» Die Deutschen – das Kaiserreich war im Ersten Weltkrieg der engste Verbündete des Osmanischen Reichs – seien dafür genauso verantwortlich wie die Türken.

«Die Deutschen tragen Verantwortung für jeden Tropfen armenischen Blutes», meint Türkay. «Aus meiner Sicht haben die Armenier das Recht, die Deutschen für die nächsten 100 Jahre zu hassen. Hätten sie das Osmanische Reich nicht unterstützt, wäre das alles nicht passiert.» Ayik, der Vorsitzende des Kirchenstiftung, formuliert das etwas diplomatischer. Ihm sei gar nicht so wichtig, ob die Bundesregierung die Massaker an seinem Volk als Völkermord anerkenne oder nicht, sagt er. «Eine Entschuldigung wäre genug».