Ein kritisches Essay…

Mit der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch vier weiße Polizisten in den USA hat auch in Deutschland die Erfahrung der Afrodeutschen sowie vieler Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen von Rassismus und Diskriminierung in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt.

Es ist nicht lange her, dass auch in Deutschland Menschen Ziele der rassistischen Angriffe geworden sind. Es reicht, wenn man den Schleier über der Vergangenheit wegnimmt.

In den 1980er und 1990er Jahren wurden mehrere rassistisch motivierte Morde begangen.

Der Brandanschlag von Mölln in der Nacht auf den 23. November 1992, in dem 3 Menschen ums Leben gekommen sind, war so ein rassistisch motivierter Mord. Ebenso war der Mordanschlag am 29. Mai 1993 in Solingen, dem fünf Menschen zum Opfer fielen, nichts anderes als ein rassistisch begründetes Verbrechen an der Menschlichkeit. 

Die Morde des NSU in den 2000er Jahren und die Morde, zuletzt in Hanau, waren rassistische Verbrechen, die ideologisch begründet und aus Hass gegen Menschen gerichtet waren. Dabei haben die Polizei und der Staat lange Zeit gezögert, die Hintergründe zu recherchieren. Sie sorgten für Entsetzen, da sie die Täter im Kreis der Opfer suchten. Damit wurden lange Zeit die Täter gedeckt, gewollt oder ungewollt. Dies hat letztlich zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen  – vor allem dies führte dazu, dass viele hier geborene Jugendliche sich auf emotionaler Ebene als Fremde fühlten und sich von ihrem Geburtsland Deutschland entfernten - , was durchaus sowohl von den rassistischen Kreisen als auch von Teilen der etablierten Politik gewollt war und heute immer noch ist. Die Kinder mit Migrationsgeschichte, die in der 1980er und 1990er Jahren zur Welt kamen, sind heute erwachsen. Sie sind selbst Eltern und werden ihre Lebenserfahrungen und die Ereignisse, die sie geprägt haben an ihre Kinder weitergeben, sowohl die positiven als auch die negativen.

Wir erleben tagtäglich Alltagsrassismus, überall dort, wo Menschen sich begegnen. Auf den Straßen, in der Berufswelt, beim Behördengang, sogar binationaler Familien haben es schwer, denn viele Eltern halten sich von ihren Kindern fern, weil diese eine Partner*in aus einem anderen Kulturkreis gesucht haben. Nach 65 Jahren Migration ist es immer noch für viele Eltern nicht selbstverständlich, dass ihre Kinder ein*e Partner*in heiraten, die anders aussieht oder andere kulturelle Hintergründe hat. 

Die Debatte über Rassismus ist bei uns nicht neu. Über den Begriff Rassismus wird seit langem viel mehr in wissenschaftlichen Diskursen diskutiert als in politischen Kreisen. Dabei sollen wir unbedingt darauf achten, dass die individuellen Handlungen der Einzelnen nicht auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden können.

Bei all diesen Diskussionen ist das größte Problem, dass viele Bürger*innen mit den Begriffen nicht umgehen können oder nicht verstehen, wenn es um deren Inhalte geht. Man kann im Alltag gegenüber anderen Menschen starke Vorbehalte und Vorurteile haben, sie aufgrund ihrer äußeren Merkmale, Sprache oder Glaube - was häufig bei der Wohnungssuche geschieht – ausgrenzen, dennoch sich nicht als rassistisch sehen. Bei einer Kritik, wäscht man sich rein, „ich bin doch kein Rassist“.

Rassismus ist eine ideologische Gesinnung, die von rassistischen Gruppen als Grundlage genommen wird. Sie definieren Menschen sowohl nach ihren äußerlichen Merkmalen als auch nach deren kulturelle Hintergrund und bezeichnen dies als „Abstammung“, um sich selber als überlegene „Rasse“ zu sehen. Nach dieser Auffassung ist Abgrenzung und Diskriminierung der Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen eine Normalität. 

Die rassistischen Gruppen nehmen die Merkmale Hautfarbe, Sprache, Aussehen, Lebensstil sowie kulturelle und soziale Angehörigkeit zu einem sozialen Milieu als ideologische Orientierung für ihre Abgrenzungsstrategie. Dabei wird das Menschsein außer Acht gelassen. Der Faktor Menschsein gilt für die Rassisten nicht. Sie sehen sich von der Geburt an als höherwertig und der überlegene Rasse zugehörig. Diese festlegende Haltung erlaubt alle anderen Menschen als unterwertig oder minderwertig zu sehen. Nach dieser Rassentheorie ist die Diskriminierung und Abstufung der Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund legitim.

Rassisten versuchen, dazu auch wissenschaftliche Argumente zu liefern, um ihre menschenverachtende Haltung zu rechtfertigen, obwohl diese Haltung den Menschenrechten und der Menschenwürde widerspricht.

Die heutige Diskussion unter politischen Parteien in Landtagen und im Bundestag um den Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland eröffnet eine Debatte, um das Grundgesetz zeitgemäß zu bearbeiten und von Begriffen wie „Rasse“ und „Abstammung“ zu bereinigen.

Der Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet aktuell: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“.

Diese Fassung des Artikels 3 von 1949 war eine grundlegende Haltung gegen die rassistische Ideologie der NS-Zeit. Was in der Zeit der Entstehung des Grundgesetzes modern war, ist es heute, nach über 70 Jahren, nicht mehr, alleine aufgrund des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland durch Migration und Mobilität.

Es würde reichen, wenn der Artikel 3 des Grundgesetzes wie folgt neu gefasst wird.

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seines kulturellen Hintergrundes, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens und seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Die Begriffe „Abstammung“ und „Rasse“ sind überflüssig geworden. Der Artikel 1 des Grundgesetzes Absatz 1 macht es deutlich: Hier wird das Menschsein als höchster Wert hervorgehoben:

(1)       Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Im Artikel 1, Absatz 2 wird die Bedeutung der Menschenrechte für die menschliche Gemeinschaft hervorgehoben, wobei hier der Begriff „Das deutsche Volk“ auch missverstanden werden könnte. An dieser Stelle könnte unabhängig vom Aufenthaltsstatus jeder einzelnen Person neu formuliert werden, beispielsweise wie folgt:

„Alle Menschen in Deutschland bekennen sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.

Dadurch wird Zuschreibungen wie „Deutsches Volk“, die von rassistischen Gruppen missbraucht und für ihre ideologische Herabsetzung der Menschen aus anderen Kulturen benutzt werden, entgegengetreten. Die Neufassung des Artikels 1 würde zugleich eine Herausforderung an alle Menschen in Deutschland, unabhängig von ihrer kulturellen und sozialen Zugehörigkeit, sein. Wir brauchen ein Grundgesetz, besser eine Verfassung, die von Begriffen wie „Abstammung“, „Rasse“ und „Volk“ und von ideologischen Befangenheiten bereinigt ist. Der Begriff Mensch reicht, wenn man die Gleichberechtigung aller in Deutschland lebenden Menschen als Grundlage nimmt.

Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es hat viele Facetten. Auch unter den Menschen mit Migrationshintergrund gibt es rassistische Zuschreibungen über die anderen Menschen und Geschlechter. Dies soll genauso bekämpft werden. Kategorisierungen und Bewertungen von wem auch immer, über anderen Menschen und untereinander sind die ideologisch bestimmten rassistischen Haltungen.

Trotz der Artikel 1 des Grundgesetzes befinden wir uns als Staat in einer Sackgasse, indem wir Menschen vor Rassismus und Diskriminierung nicht schützen können, da unsere staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen den gesellschaftlichen Wandel und die Realität der kulturellen Vielfalt nicht beachten.

Diskriminierung und Rassismus müssen konsequent bekämpft werden, wie im Grundgesetz-Artikel 1 festgeschrieben ist („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“)

Es ist fast zu spät, wenn wir nach 65 Jahren Einwanderung immer noch über die Begriffe und deren Inhalt diskutieren, anstatt offene, zeitgemäße, der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend interkulturell offene Strukturen aufzubauen.

Ein weiterer Antrieb für die Befestigung der Vorurteile in den Köpfen ist die Sprache, die wir im Alltag benutzen.  Wir müssen eine Sprache finden, die die Menschen vor Zuschreibungen beschützt. Vor allem die Erziehung in der Schule und die Schulbücher sollen von menschenverachtenden Begriffen bereinigt werden. Dabei sollen sich auch die Medien verpflichten, Begriffe wie „Fremdenfeindlichkeit“ zu benutzen. Jeder Angriff auf Menschen ist menschenfeindlich, nicht fremdenfeindlich, wie es von Rassisten gesehen wird. Jede menschenfeindliche Haltung ist rassistisch begründet, auch wenn es unterschiedliche wissenschaftliche und politische Begründungen gibt.

Selbstverständlich können die Vorurteile, die durch Unkenntnisse und Unwissenheit über andere Kulturkreise entstehen, nicht dem Rassismus gleichgestellt werden. Aber diese Vorurteile bieten den Raum für rassistisch begründete Ideologien, die Menschen aus anderen Kulturkreisen als minderwertig definieren, da sie angeblich zu der unterlegenen Rasse gehören.

Rassismus hat viele Facetten, neben den ideologischen zum Beispiel auch die religiösen, z.B. werden andere geschlechtliche Orientierungen (Homosexualität) als minderwertig bewertet. Alle Diskriminierungsformen, die eine ideologische und menschenfeindliche Grundlage haben, sind rassistisch, auch wenn heute unter den Wissenschaftler*innen über die Definition des Rassismus gestritten wird.

Es stellt sich die Frage, ob die gängige Rassismus-Definition nicht zu kurz gegriffen ist, wenn sie nur die äußeren Merkmale erfasst. Neben biologischem und kulturell begründetem Rassismus gibt es auch andere Zuschreibungen wie Geschlecht, soziale Zugehörigkeit u.a.

Eine ablehnende Haltung, die biologische sowie kulturelle Andersartigkeit zugrunde legt, um die Menschen zu diskriminieren und aus der Gesellschaft auszugrenzen, könnte durchaus ebenfalls als rassistisch betrachtet werden.

Es soll nun auch Rassismus unter Migranten nicht verleugnet werden. Zum Beispiel sehen Türken die Kurden als gefährlich und separatistisch an, daher verabscheuen sie die Kurden. Die Kurden sehen umgekehrt die Türken als Unterdrücker, und daher hassen sie diese. Wenn diese und solche Beschreibungen analytisch kritisch betrachtet werden, könnten diese Haltungen untereinander auch rassistische Züge aufweisen, auch wenn sie in erster Linie als politische Haltungen gesehen werden können. Wenn man sich die Hintergründe des Konfliktes zwischen Türken und Kurden anschaut, spielen dabei auch religiöse und nationalistische Weltbilder eine wichtige Rolle, die historisch begründete Merkmale in den Vordergrund stellen. Auch religiöse Haltungen gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften führen zu rassistischen Handlungen, z.B.  sieht ein Teil der sunnitischen Muslime aus der Türkei die Aleviten als „unmoralisch“ und „ehrlos“, weil die Frau in deren Gesellschaft als gleichberechtigt gesehen ist. Dadurch sehen sie sich berechtigt, die Aleviten zu beschimpfen, ja sogar deren Ermordung legitimieren sie.

Solche Wertungen sind innerhalb der Migrantengruppen häufig zu sehen. Auch viele Jugendliche mit Migrationsgeschichte, die hier geboren und groß geworden sind, sehen die Deutschen als eine „ehrenlose“ Gesellschaft und als „Nazis“, dabei spielen sowohl die religiös begründeten Argumente als auch der Einfluss nationalistischer Kreise eine große Rolle, die durch Erziehung von zu Hause mitgegeben werden.

In islamisch geprägten Milieus werden häufig Begriffe angewandt, ohne deren Bedeutung zu kennen. Dabei spielt ein durch Religion begründetes Frauenbild eine sehr starke Rolle. Man könnte sagen, dass eine frauenfeindliche Haltung als diskriminierend und auch als menschenverachtender Rassismus bewertet werden muss.

Mit diesem Essay wollte ich anregen, dass wir uns der Diskussion über Begriffe wie „Rasse“, „Abstammung“, „Ehre“, „Volk“ u.a. stellen müssen. Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, und ihn zu bekämpfen, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.