Die Sprecherin für Internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Sevim Dağdelen, sagt, dass die gesamte NSU-Affäre einen großen Vertrauensverlust bei den Deutsch-Türken hervorgerufen habe. „Die Menschen befinden sich im Schockzustand und haben Angst. Das ist es, was ich in den Gesichtern sehe“, so Dağdelen. Einige sehen sich darin bestätigt, dass es einen „staatlich organisierten Rassismus“ in Deutschland gebe.


Das Versagen und die Ignoranz der Sicherheitsbehörden und der politischen Elite, sei nicht zu übersehen. Das OLG München hat ihren „unnötigen“ Beitrag zu diesem Vertrauensverlust beigetragen. Nach den Brandanschlägen in Solingen und Mölln, habe die Politik mit der Parole „Nie wieder!“ skandiert.


„Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten“, meint Dağdelen. Sie selbst veranstalte in regelmäßigen Abständen bundesweit Bürger-Konferenzen zum NSU-Skandal. Dort haben die Bürger die Möglichkeit, Fragen zu stellen. „Wer interessiert ist, kann mich in meinem Büro kontaktieren und Termininfos erhalten“, so Dağdelen. Sie wünsche sich, dass mehr Volksvertreter mit den Menschen über den NSU-Terrorismus und ihrer Verbindung zum Staat reden und die Sorgen der Menschen teilen.


Soziale Unruhen statt ethnische Konflikte


Auf die Nachfrage, ob der NSU-Skandal den psychologischen Grundstein für kommende ethnische Konflikte in Deutschland gelegt habe, antwortete die Bundestagsabgeordnete, dass ethnische Unruhen in Deutschland unwahrscheinlich seien. Sie sehe allerdings die Wahrscheinlichkeit von sozialen Unruhen in Deutschland. Denn „soziale Verwerfungen werden zunehmen“. Die aktuellen Bankenrettungen werden, so Dagdelen, von den Steuergeldern des kleinen Bürgers finanziert.


Es sind nicht die Verursacher und Profiteure der Krise und die Superreichen, die zur Kasse gebeten werden“, meint Dağdelen. Migranten und Migrantinnen seien von dem größer werdenden Gefälle zwischen arm und reich ganz besonders betroffen. Mögliche Unruhen innerhalb dieser gesellschaftlichen Gruppe, wären sozial bedingt. Doch es bestehe eben die Gefahr, dass jene Unruhen – wenn sie denn wirklich auftreten – fälschlicherweise als ethnische Unruhen umschrieben werden könnten.


 „Die AKP verfolgt Andersdenkende“


Sevim Dağdelen nimmt kein Blatt vor den Mund. Auch die derzeitige Situation in der Türkei sieht sie kritisch. Die AKP habe im vergangenen Jahrzehnt die kritische Medienlandschaft zerschlagen. Erdogan zeichne ein „Freund-Feind-Denken“ aus. Er habe auch die Gesellschaft in der Türkei verändert. Viele Menschen passen ihre Denk- und Verhaltensweisen aus Angst an.


Die Justiz sei nach der Verfassungsreform 2010 in die Hände von AKP-Juristen gefallen. Das lasse sich sehr deutlich anhand der massenhaften Verfahren gegen Andersdenkende beobachten. „Erdogan betreibt zudem eine nachhaltige Konfessionalisierung der Gesellschaft“, sagt Dagdelen.


Die Aleviten in der Türkei werden immer mehr zu gesellschaftlichen Außenseitern. Das Alltagsleben der Menschen sei begleitet von „Schikanen“ und „Mobbing“. In den Vierteln von Aleviten, so Dağdelen, werden demonstrativ Moscheen gebaut. Das sei eine Provokation und Teil der Islamisierungs-Agenda der Regierung. Der Moscheebau in der Türkei werde unverhältnismäßig stark forciert.


Ankara ist bei allen regionalen Konflikten auf der Seite von Islamisten und radikal-sunnitischer Kräfte. Dies gehe bis hin zur Unterstützung von Al-Kaida-nahen Gruppen in Syrien und im Irak“, so Dağdelen. Dahinter stecke nicht zuletzt ein machtpolitischer Faktor.


Das „Erdogan-Regime“ treibe eine Konfessionalisierung voran und versuche sich diese zu Eigen machen, um seinen Machteinfluss regional zu erweitern. Ziel sei es mit einer neoosmanischen Außenpolitik sich die Religion für eine regionale imperiale Machtprojektion zu Nutze zu machen. Dies fände auch die Unterstützung Berlins und Washingtons, die auf diese Weise ihre Interessen in der Region bedient sähen.