Jahrelang war China der Motor für die Weltkonjunktur, jetzt steckt die Wirtschaft des Landes in Schwierigkeiten. Viele Exportfabriken mussten bereits schließen. Arbeiter gehen auf die Straße, und selbst die noch junge Mittelschicht begehrt neuerdings auf.

Wie aus dem Nichts tauchen die Spezialeinheiten der Polizei auf. Gerade noch marschierten der Arbeiter Liu(*) und rund 300 seiner Kollegen der pleitegegangenen Fabrik Bill Electronic vor dem Rathaus von Dongguan auf und ab. "Gebt uns unser Blut- und Schweißgeld zurück!", skandierten sie. Dann gehen ihre Rufe in Schreie des Entsetzens über.

Ein paar hundert Uniformierte mit Helmen, Schildern und Schlagstöcken sowie zahlreiche Sicherheitskräfte in Zivil springen aus olivgrünen Einsatzfahrzeugen. Die Rädelsführer, auch Liu, werden mit einer Hundestaffel am Straßenrand zusammengetrieben. Nur wenige Minuten braucht die kommunistische Obrigkeit, um den Protest zu ersticken.

Die meist jungen Frauen und Männer werden in gelbe Busse gestoßen und zurück in ihre Fabrik verfrachtet. Dort setzt die Staatsgewalt sie dann massiv unter Druck: Bis zum Nachmittag müsse jeder einwilligen, sich mit 60 Prozent seiner noch ausstehenden Löhne vom

Arbeitsamt zu begnügen. Wer sich weigere, werde gar nichts kriegen, drohen die Beamten.

Die neue globale Krise ist in China angekommen. Die Schuldenprobleme in Europa, der größte Handelspartner der Volksrepublik, trüben neuerdings auch die Aussichten der Weltfabrik. Verschärft wird die Ungewissheit durch die labile US-Konjunktur und einen drohenden Handelskrieg der beiden Supermächte. Im Zuge des beginnenden Präsidentschaftswahlkampfs überbieten sich amerikanische Politiker derzeit mit protektionistischen Tönen gegenüber dem roten Rivalen.

Der Oktober ist bereits der dritte Monat in Folge, in dem Chinas Exporte zurückgehen. Damit sinken auch die Hoffnungen deutscher Hersteller, der asiatische Wachstumsmarkt könne ihnen ähnlich aus der globalen Krise helfen wie bereits nach 2008. Mit den eigenen massiven Herausforderungen - einer Blase auf dem Immobilienmarkt und hochverschuldeten kommunalen Haushalten - könnte China inzwischen sogar selbst zu einem Risiko für die Weltwirtschaft werden.

Für Arbeiter Liu jedenfalls ist das Wirtschaftswunder seines Landes vorerst zu Ende. Zwölf Stunden täglich montierte er bisher Zubehör für DVD-Spieler. Zum Schluss hätten sie immer weniger zu tun gehabt, sagt er. Die Aufträge aus Europa gingen zurück, habe ihr Boss ihnen vor einiger Zeit mitgeteilt.

Nach der Polizeiaktion irrt Liu eingeschüchtert durch die staubigen Straßen seiner Stadt. Rechts und links reiht sich Fabrik an Fabrik, Wohnheim an Wohnheim. "Wir wollten doch nur unseren vollen Lohn, aber sie hetzten die Polizei auf uns", sagt er. Sein Vertrauen in Partei und Staat ist zerstört.

Gerade hier in der Exportregion Guangdong, dem Experimentierlabor des chinesischen Kapitalismus, vergeht kaum ein Tag ohne neue Pleiten oder Proteste. In der Schuhfabrik Yue Chen in Dongguan - sie produziert im Auftrag ihrer taiwanischen Mutterfirma Sportschuhe für Marken wie New Balance - herrscht dieser Tage Ausnahmezustand: Wegen wegbrechender Aufträge entließ der Hersteller schon 18 Manager. Den Arbeitern wurden die Überstunden gestrichen, die normalen Löhne reichen unterdessen kaum zum Leben. Der Frust ist inzwischen so groß, dass einige der Arbeiter sich den Protesten vor dem Rathaus anschlossen. Bei Zusammenstößen mit der Polizei seien etwa zehn Kollegen verletzt worden, berichten junge Arbeiterinnen.

Die Lage vor dem grauen Werkkomplex ist angespannt. Schlägertypen in Zivil bewachen den Eingang. Wer mit den Arbeitern spricht, wird fotografiert und eingeschüchtert. In der Fabrik geht die Kraftprobe zwischen Bossen und Beschäftigten weiter: Die Arbeiter hocken untätig in den düsteren Werkhallen. Dort, wo sie sonst Schuhe nähen und kleben, hat das Management ihnen teilweise den Strom abgeschaltet.

Und auch im übrigen China stehen immer häufiger die Bänder still: Im ostchinesischen Wenzhou, weltbekannt für seine billigen Feuerzeuge, Schuhe und Kleider, flohen zahlreiche Unternehmer vor ihren Gläubigern, den privaten Schattenbanken, die ihnen als Letzte noch Geld geliehen hatten. Zuvor hatten manche Chefs klammheimlich Maschinen aus ihren Fabriken weggeschafft.

Selbst Vorzeigebranchen der Volksrepublik trifft der europäische Nachfrageknick: Suntech Power Holdings beispielsweise, ein Hersteller von Solaranlagen in Wuxi bei Shanghai, meldete für das dritte Quartal einen Verlust von 116 Millionen Dollar; im gleichen Vorjahreszeitraum hatte das Unternehmen noch 33 Millionen Dollar Gewinn erwirtschaftet.

China und Verluste? Noch vor kurzem wurde der asiatische Exportweltmeister von ausländischen Geschäftsleuten und Politikern als Sieger der globalen Finanzkrise bewundert. In Pekings autoritärem Staatskapitalismus glaubten manche gar eine überlegene Alternative zu den krisengeschüttelten Marktwirtschaften westlicher Prägung zu entdecken.

Insbesondere deutsche Autobosse ließen sich vom chinesischen Wachstum zu gewaltigen Investitionen hinreißen. Für VW ist China längst der wichtigste Absatzmarkt der Welt, bis Ende dieses Jahres hofft der Wolfsburger Konzern dort insgesamt zwei Millionen Autos zu verkaufen.

Doch der Auto-Boom kühlt ab. "Seit neun Tagen bekommen wir keinen einzigen Auftrag herein", verrät der smarte Verkäufer beim Porsche-Händler von Dongguan. "Das hatten wir noch nie." Viele Firmenbosse seien knapp bei Kasse: "Vor einiger Zeit zahlten sie meist noch in bar, jetzt kaufen sie lieber auf Kredit."

Auch chinesische Billigmarken wie BYD ("Build Your Dreams") werden ihre Autos nicht mehr so einfach los: Vergangenes Jahr liefen wichtige staatliche Steueranreize für den Autokauf aus. Metropolen wie Peking versuchen zudem, ihre verstopften Straßen mit Hilfe von Zulassungsbeschränkungen für Neuwagen zu entlasten. Im Oktober kauften die Chinesen über sieben Prozent weniger Autos als im Monat zuvor.

Dabei schien es zunächst, als hätten die Pekinger Staatskapitalisten ein Wunderrezept für ewiges Wachstum gefunden: Mit vier Billionen Yuan (umgerechnet 430 Milliarden Euro), dem größten Konjunkturpaket der Geschichte, starteten sie 2009 den Bau immer neuer Autobahnen, Bahnhöfe und Flughäfen. Mit Steueranreizen brachten sie Millionen Bauern dazu, sich erstmals Kühlschränke oder Computer anzuschaffen.

Quasi auf Befehl der Partei warfen die Banken ihr Geld unters Volk: Besonders großzügig verschuldeten sich die Lokalregierungen. Ende 2010 betrugen ihre Außenstände 10,7 Billionen Yuan - das entspricht knapp einem Viertel von Chinas gesamter Wirtschaftsleistung.

Ein großer Teil dieser Mittel floss direkt oder indirekt in den Bau von Immobilien. Die Lokalregierungen entdeckten den Verkauf von Bauland als lukrative Einnahmequelle - und auch als Sicherheit, um sich bei Banken immer wieder neues Geld zu leihen. Tausende Bauern wurden von ihren Äckern vertrieben, um Villen und Wohnsilos bauen zu lassen.

Viele der oft größenwahnsinnigen Projekte gammeln nun als Geisterstädte vor sich hin. In Chinas 15 größten Städten ging die Zahl neuversteigerter Baugrundstücke allein im Oktober um 39 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurück.

Während man im Westen noch hofft, dass China die Schuldenkrise von Euro- und Dollar-Raum mit seinen Devisenbeständen löst, wächst zu Hause die Kluft zwischen Arm und Reich. Die "harmonische Gesellschaft", die Staats- und Parteichef Hu Jintao stets beschwört, ist in Gefahr.

Um die Inflation zu bändigen, erhöhte die Zentralbank seit Mitte 2010 fünfmal die Zinsen; zugleich zwang sie die Banken, höhere Rücklagen zu bilden. Auf diese Weise hofft Peking, auf eine "weiche Landung" des eigenen Booms hinsteuern zu können. Aber das Manöver birgt Risiken. Denn mit dem bisherigen Konjunkturmotor Bauwirtschaft drohen nun auch weitere Branchen wie Zementhersteller, Stahlkocher und Möbelbauer an Dynamik zu verlieren.

Wenn die Immobilienblase platzt, bringt das allerdings auch Chinas aufsteigende Mittelschicht gegen die Obrigkeit auf. Bisher sahen die Neureichen die Kommunistische Partei als Garant ihres Wohlstands. Kürzlich aber demonstrierten mitten in Shanghai empörte Wohnungsbesitzer gegen den Preisverfall ihrer Immobilien.

Wang Jiang, 28, deutet mit dem Finger auf einen fast fertigen Wohnblock in Anting, einem Außenbezirk der Millionenmetropole. Im 16. Stock erwarb der Manager einer Software-Firma Anfang September ein Apartment für 138 000 Euro. Für die 82 Quadratmeter große Bleibe war das ein stolzer Preis, zumal das Objekt in einer Industriewüste zwischen Fabriken und Schnellstraßen liegt. Doch Wang wollte unbedingt noch am Boom mitverdienen. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, den Wohnkomplex vor dem Kauf zu besichtigen. Wo sonst als in Immobilien hätte er sein Vermögen auch investieren sollen?

Chinas staatliche Banken zahlen ihren Sparern Negativzinsen, und die Shanghaier Börse gilt als hochriskante Spielhölle, an der einige wenige staatliche Großanleger angeblich nach Belieben die Kurse manipulieren.

Wangs Wohnung ist noch nicht einmal fertig, doch die Vorfreude auf den Einzug ist ihm gründlich vergangen. Denn seit kurzem bietet die Immobiliengesellschaft vergleichbare Apartments in derselben Anlage rund 20 Prozent billiger an.

Wang sieht sich um den Wiederverkaufswert seiner Wohnung betrogen: "Was fällt denen ein?", schimpft er. "Die können doch nicht plötzlich einen Teil meines Vermögens vernichten?" Sie können.

Kürzlich protestierten Wang und zahlreiche weitere aufgebrachte Wohnungsbesitzer im Verkaufsraum der Immobiliengesellschaft gegen die Preissenkungen. Plötzlich habe jemand damit begonnen, die Miniaturmodelle der Wohnanlage zu zertrümmern, erzählt Wang. Dann sei alles blitzschnell gegangen: Wachmänner der Immobiliengesellschaft packten ihn und verfrachteten die Aufrührer in mehrere Kleinbusse, die sie zur Polizei schafften.

"Bis zwei Uhr morgens wurden wir verhört", berichtet Wang. Einige der Protestierer säßen noch immer in Haft, ihre Familien würden von der Obrigkeit im Ungewissen gelassen.

Dongguan oder Shanghai - allenthalben zeigen sich feine Risse in der Gesellschaft der Volksrepublik: Solange die Einparteien-Diktatur für zweistelliges Wachstum sorgte, nahmen die Chinesen ihre Unfreiheit in Kauf. Nun steckt Peking in einem Dilemma: Mit polizeilicher Härte kann es die Folgen der abflauenden Konjunktur auf Dauer kaum in den Griff bekommen. Aber auch mit staatlichen Subventionen lässt sich das Wachstum nicht einfach wieder ankurbeln. Es helfen weder Geld noch Gewalt.

Kürzlich kündigte Premier Wen Jiabao eine "Feinregulierung" seiner Wirtschaftspolitik an: Die Banken sollen vor allem kleinen und mittleren Exportfirmen großzügiger Kredite einräumen.

Diesmal sei die wirtschaftliche Lage viel komplizierter als nach Ausbruch der globalen Krise 2008, sagt der Ökonom Lin Jiang. Damals brachen Chinas Exporte massiv ein, rund 25 Millionen Wanderarbeiter kehrten aus den Fabriken in ihre Heimatprovinzen zurück.

Zumindest von Arbeiter Liu in Dongguan braucht die chinesische Obrigkeit vorerst keinen Protest mehr fürchten. Er ist damit beschäftigt, sich eine neue Unterkunft zu suchen. Denn mit dem Job verlor er zugleich seinen Schlafplatz im Wohnheim der Elektronikfabrik.

(*) Name von der Redaktion geändert.
DER SPIEGEL 49/2011