Ich verstehe kein einziges Wort. Doch die Musik, die ich zum ersten Mal höre, schenkt mir ein Stück Identität. Die Identität, die ich durch magische Klänge als Geschenk bekomme, ist weder ethnisch noch religiös, sondern rein menschlich. Sie ist meine wahre Identität. Sie ist auch deine wahre Identität. Sie ist eigentlich unsere einzige wahre Identität, ohne irgendeine weitere Kategorie. Sie ist nur rein menschliches Da-Sein.

Diese wurde von Mkrtich Naghash aus dem 15. Jh. beschrieben und von John Hodian im 21. Jh. kombiniert.

Die Idee zum Naghash Ensemble kam mir, als ich im Tempel von Garni außerhalb Jerewans das Luys Vokalquintett singen hörte. Sie sangen vor allem mittelalterliche armenische geistliche Musik, und ihre schönen Stimmen im Zusammenspiel mit der erstaunlichen Akustik von Garni haben in mir einen tiefen Eindruck hinterlassen, der Tage lang anhielt. Ich war entschlossen, etwas zu schreiben, was diesen Klang auf neue Weise nutzen würde.

Es dauerte Jahre, bis ich den richtigen Text fand. Monatelang suchte ich in den Bibliotheken Jerewans, New Yorks und Berlins. Als ich schließlich ein kleines Fragment des spätmittelalterlichen armenischen Dichters Mkrtich Naghash entdeckte, sprangen mir die Worte aus dem Text entgegen, direkt in meine Seele, und ich wusste, dass ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Da ich mich zu dieser Zeit gerade in Jerewan aufhielt, konnte ich die übrigen 17 Gedichte ausfindig machen. Nachdem ich viel darüber nachgedacht hatte, welche Gedichte ich verwenden wollte, beschloss ich schließlich, alle 17 zu vertonen. Die Worte waren zwar philosophisch, aber sie waren an die einfachen Leute in Naghashs Zeit gerichtet, und ich finde sie heute noch genauso relevant wie im 15. Jahrhundert.“

So berichtet der armenische Komponist John Hodian, wie er Naghash Ensemble gründete.

Er und Wiebke Zollmann(Projektmitarbeiterin) haben meine Fragen über das Projekt beantwortet.

Songül Kaya-Karadag: Hallo John, schon seit sieben Jahren beschäftigst du dich intensiv mit mittelalterlicher armenischer Musik bzw. mit der Philosophie von Mkrtich Naghash. Ich würde gerne wissen, inwieweit dieses Projekt dein persönliches Leben geprägt hat. Spürst du das Mittelalter oder entdeckst du die Spuren des Mittelalters in der Gegenwart, während du die Gedichte von Naghash musikalisch bearbeitest?

John Hodian: Musik kann uns an einen spezifischen Ort oder eine Zeit denken lassen. Als ich die »Songs of Exile« komponiert habe, habe ich aber nicht versucht, absichtlich etwas zu schaffen, das »armenisch« oder »mittelalterlich« klingt. Ich habe die Texte einfach immer wieder gelesen, bis ich in meinem Kopf diese Musik hörte. Es war nichts, worüber ich bewusst nachdachte, sondern ein völlig intuitiver Vorgang. Aber natürlich gibt es in dieser Musik Einflüsse von Dingen, die mich geprägt haben – armenische Musik ebenso wie europäische Klassik, zeitgenössische amerikanische Musik und nicht zu vergessen auch populäre Musik in all ihren Formen.

Songül Kaya-Karadag: Die Klänge, die Du mit Naghash Ensemble auf die Bühne trägst, sind nicht nur armenisch-ethnische Musik, auch die klassische Musik, die eigentlich in Europa zu Hause ist. Wie kann ich es verstehen, hat Musik allgemein keine Zeit und keinen Raum oder gilt diese Kombination nur speziell für dein Projekt?

John Hodian: Seit wir vor fünf Jahren begonnen haben, mit dem Naghash Ensemble aufzutreten, sind die Reaktionen des Publikums durchgehend sehr erfreulich gewesen. Dabei spielt es keine Rolle, welche Art von Konzerten die Menschen normalerweise besuchen. Wer sich gewöhnlich zur Klassik hingezogen fühlt, ist von dieser Musik ebenso berührt wie jemand, der sich eher für Folk- oder Weltmusik begeistert.

Songül Kaya-Karadag: Obwohl ich die Songtexte sprachlich nicht verstehen konnte, hat diese Musik mich direkt angezogen. Wie ist eigentlich allgemein die Reaktion des Publikums? Gibt es Menschen, die sich mit diesen Klängen oder Songtexten identifizieren?

John Hodian: Gesungene Texte sind selbst für Muttersprachler nie leicht zu verstehen. In den meisten Fällen kann man vom Publikum nicht erwarten, dass es die Texte versteht, es sei denn, es handelt sich um sehr einfache Musik – Popsongs oder Musicals zum Beispiel. Wenn wir jetzt noch berücksichtigen, dass Mkrtich Naghashs Texte auf Mittelarmenisch verfasst sind (was sich in vielerlei Hinsicht vom heutigen West- und Ostarmenisch unterscheidet), müsste das Publikum bei unseren Konzerten theoretisch nur aus Forschern bestehen, die sich mit mittelalterlicher armenischer Linguistik befassen. Das gleiche Phänomen finden wir bei klassischer Musik mit ihren Texten und dem heutigen Publikum. Stellen wir uns ein amerikanisches Publikum vor, das ein Oratorium von Brahms hört oder ein italienisches Publikum bei Wagner. Vielleicht werden wir in Zukunft bei Konzerten des Naghash Ensembles mit Untertiteln arbeiten – für jeden Konzertbesucher in seiner eigenen Sprache, sei es Englisch, Deutsch, Armenisch, Türkisch usw. Derzeit lesen wir bei den Konzerten vor jedem Stück einen Ausschnitt des jeweiligen Gedichtes in der Sprache unseres Gastlandes vor.

Songül Kaya-Karadag: Das wäre bestimmt sehr schön. Die Texte sind schon bereits in drei Sprachen(Englisch, Französisch und Deutsch) übersetzt worden. Liebe Wiebke du hast mit Anahit Avagyan die deutsche Übersetzung übernommen. Wie waren eigentlich deine erste Eindrücke, als du zum ersten Mal die Klänge gehört hast? Hattest du zum Beispiel eine gewisse Vertrautheit erlebt?

Wiebke Zollmann: Vor vielen Jahren habe ich John Hodian in Armenien kennengelernt. Als er dann einige Zeit später online Spenden sammelte, um die »Songs of Exile, Volume I« aufzunehmen, unterstützte ich das Projekt. Für mich ist es die schönste Musik der Welt. Es sind Stücke, die mich zutiefst berührt haben und die mir den Horizont aufreißen. Ich kannte armenische Musik aus meiner Zeit, die ich in Armenien verbracht hatte – Johns Kompositionen sind unverkennbar armenisch. Aber zugleich finden sich in dieser Musik auch ganz andere Einflüsse wie von Bach, Steve Reich oder Joni Mitchell. Inzwischen begleitet mich diese Musik seit Jahren und manchmal, in absoluter Stille, spielt sie einfach so in meinem Kopf.

Ich hatte später die Ehre, die Gedichte, auf denen die »Songs auf Exile« basieren, ins Deutsche zu übersetzen, und lese heute bei den Konzertreisen des Ensembles in Deutschland, Österreich und der Schweiz Auszüge dieser Lyrik auf Deutsch. Es sind wunderschöne, reiche Texte, oft tieftraurig, nachdenklich, und doch von einer enormen Hoffnung geprägt, die sich aus dem Glauben an Gott speist.

Songül Kaya-Karadag: Du begleitest jetzt die Konzerte. Kannst du bitte unsere Leser über deine Arbeit bzw. über Tourdaten von Naghash Ensemble informieren? Wann und wo finden die nächsten Konzerte statt?

Wiebke Zollmann: Seit 2016 arbeite ich als Werbetexterin, Übersetzerin, Leserin, Fotografin und Tourbegleiterin für das Naghash Ensemble. In dieser Zeit tourte das Ensemble in Deutschland, Lettland, der Schweiz und Italien. Für die kommenden Jahre sind Konzerte in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Litauen geplant. Die letzte Tour des Ensembles hatten wir im April: Am 26.4.2017 in Leipzig, am 27.4.2017 in Halle (Saale), am 28.4.2017 in Neustadt an der Weinstraße und am 29.4.2017 in Ravensburg.

Die nächsten Konzerten in Deutschland sind:

14. Juli • Kaufungen, Germany
15. Juli •
Schwäbisch Hall, Germany
16. Juli •
Bursfelde, Germany

9. November • Fürth, Germany

Alle Tourdaten veröffentlichen wir unter www.naghashensemble.com.

Songül Kaya-Karadag: Du warst ein Mal wegen einem anderen Projekt in der Türkei. Wird auch das Naghash Ensemble in die Türkei reisen können?

Wiebke Zollmann: 2015 bereiste ich als Leiterin der Bloggerreise »Geschichten aus der Nachbarschaft« mit 20 armenischen und türkischen Studenten verschiedene Städte in der Türkei und Armenien, wo die Teilnehmer Interviews mit Angehörigen von Minderheiten führten. Bei dieser emotional aufwühlenden Reise entstanden tiefe Freundschaften. Es war eines der erfolgreichsten und wichtigsten Projekte, die ich je durchgeführt habe. Einige der Musiker des Naghash Ensembles haben ihrerseits an Begegnungsprojekten mit türkischen Musikern teilgenommen. Wenn es die politische Lage in der Türkei eines Tages wieder zulässt, würden wir das Naghash Ensemble sehr gern auch in der Türkei präsentieren.

Songül Kaya-Karadag: John es gibt bis jetzt zwei Alben Volume I und Volume II. Du arbeitest jetzt an Volume III. Was sind die Unterschiede zwischen den Alben?

John Hodian: Die Bände (auf Englisch: Volumes) habe ich thematisch geordnet. Volume I umkreiste das Leben und Leid des Gharib im Exil. Volume II erschien erst kürzlich und umfasst Gedichte, in denen Mrktich Naghash als Priester zu Wort kommt. Man hat fast das Gefühl, er spräche in diesen Texten auf lyrische Weise zu seiner Gemeinde. Daher habe ich den Titel »Credos & Convictions« gewählt. Für Volume III verbleiben 5 Gedichte, die thematisch breiter ausgerichtet sind. Noch weiß ich nicht, welchen Titel ich dieser Sammlung geben werde, aber ich habe auch noch viel Zeit. Es existieren erste Skizzen, aber bis die Kompositionen abgeschlossen, mit dem Ensemble einstudiert und aufgenommen sein werden, wird es noch eine Weile dauern.

Auch der musikalische Unterschied zwischen Volume I und II ist interessant. Als ich Volume I schrieb, gab es kein festes »Naghash Ensemble«. Ich versammelte einfach einige der besten Musiker und Sängerinnen Armeniens, um meine Kompositionen aufzunehmen. Nachdem wir nun jahrelang mit dieser Musik aufgetreten sind, hat sich das Ensemble etabliert. Als ich dann die neuen Stücke komponierte, war ich mir der Stärken und Schwächen der Musiker bewusst und konnte explizit damit arbeiten. So habe ich zum Beispiel die Stärken der Instrumentalisten genutzt, indem ich Musik schrieb, die idiomatisch für ihre Instrumente war. Dies hat dazu geführt, dass die Stücke jetzt rhythmisch viel kraftvoller sind.

Songül Kaya-Karadag: Ich denke, dass es in den Songtexten auch mystische Botschaften gibt. Kann man diese kurz zusammenfassen?

John Hodian: Die Texte von Mkrtich Naghash lassen sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen. Aber der Aspekt, der mich sehr fasziniert, ist, dass die Texte sehr viel davon ausdrücken, was alle Religionen gemeinsam haben: Diese Welt ist vergänglich. Nutze deine Zeit auf Erden weise. Lass dich nicht vom Streben nach Macht, Reichtum oder Ruhm leiten. Lebe auf dieser Welt so, dass du im Jenseits Frieden finden wirst. Ob man nun ans Jenseits und ein Leben nach dem Tod glaubt oder nicht – ich finde, das sind gute Ratschläge.

Songül Kaya-Karadag: Ich bedanke mich für die Antworten und vor allem für das ganze Projekt, in dem die Weltphilosophie von Naghash mit schönen Klängen ausgedrückt wird.

P.S.: Ein besonderen Dank an Wiebke Zollmann für die Übersetzung der Fragen und Antworten.

07.05.2017 /Köln