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er deutsche Verfassungsschutz sieht auf dem rechten Auge kaum etwas. Dieser fatale Eindruck bleibt. Denn es ist schon auffällig, dass Linke akribisch beobachtet werden, aber die "Zwickauer Zelle" zehn Jahre lang morden konnte, ohne dass der Verfassungsschutz auch nur vor Rechtsterrorismus gewarnt hätte. Dieses furchtbare Versäumnis soll nun ein Untersuchungsausschuss des Bundestages aufarbeiten. Gleichzeitig gab Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) der Behörde den Auftrag, ihre Kriterien zu überprüfen, die sie dazu veranlasst haben, 27 Abgeordnete der Linkspartei zu beobachten. Es geht also darum, die politische Optik des Verfassungsschutzes zu korrigieren und die Sehschwächen auszumerzen. Das ist Konsens unter den Parteien. Und ebenso peinlich wie überfällig.

Denn es ist in der Tat so, wie Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, in der Aktuellen Stunde des Bundestages an diesem Donnerstag sagte: Die Liste der beobachteten Abgeordneten liest sich wie ein "Who is Who" des Reformerflügels der Linken. Dietmar Bartsch ist darunter, einer, den die SPD mit Kusshand aufnehmen würde, weil er Pragmatiker bis in die Haarspitzen ist. Oder auch Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages, von der Beck sagt, ihr "staatstragender Charakter" ließe sich kaum übertreffen, was für einen Linken schon fast eine Beleidigung ist. Was soll der Unsinn, ausgerechnet jene zu verdächtigen, die sich ausdrücklich gegen die Sektierer, Wirrköpfe und Superideologen im eigenen Laden stellen?

Will Merkel Ostpreußen zurück?

Friedrich argumentierte nicht ohne Chuzpe, dass der Verfassungsschutz wissen müsse, welches Gewicht die marxistischen Strömungen der Partei hätten. Deswegen sei es legitim, auch die Führungsspitze zu beobachten. Wäre dieses Argument zulässig, müsste der Verfassungsschutz auch Kanzlerin Angela Merkel beobachten, um abzuklären, ob sie von revisionistischen Ansichten des Vertriebenenverbandes kontaminiert ist. Deren Chefin Erika Steinbach sowie zwölf weitere CDU/CSU-Abgeordnete stimmten 1991 bekanntlich gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu Polen. Tickt Merkel, entgegen allen öffentlichen Beteuerungen, vielleicht auch so? Will sie Ostpreußen zurück? Dieser Verdacht hat dieselbe Qualität wie der Verdacht, Bartsch wolle eine stalinistische Diktatur errichten.

Die in Berlin jedem politisch Interessierten geläufige Unterscheidung zwischen Reformern und Fundis in der Partei scheinen die Verfassungsschützer jedenfalls nicht zu kennen. Sie handelten offenbar nach der plumpen Devise: ostdeutsch plus Ex-SED-Mitglied = verdächtig; westdeutsch = unverdächtig. Das ist die Schlachtordnung des kalten Krieges, sie hat aber nichts mit der ideologischen Gewichtsverteilung in der Linkspartei zu tun. Die verhält sich nämlich in der Regel genau umkehrt: Ostdeutsche Linke streben Regierungsbeteiligungen an, westdeutsche gefallen sich in revolutionären Posen. Es ist kein Zufall, dass die ostdeutsche Sahra Wagenknecht, ehemalige Chefin der kommunistischen Plattform und Rosa-Luxemburg-Lookalike, ihr politische Heimat in Nordrhein-Westfalen suchte.

Selbst bei Fundis müsste man vorsichtig sein

Und selbst bei den Fundis müsste der Verfassungsschutz vorsichtig sein. Denn es ist in der Tat so, wie Dieter Dehm, auch ein so ein Beobachtungsobjekt, am Ende der Aktuellen Stunde bemerkte: Das Grundgesetz schützt die Demokratie, lässt aber die Art des Wirtschaftens offen. Ausdrücklich besagt Artikel 15, dass Grund und Boden, Naturschätze und Wirtschaftsbetriebe per Gesetz in Gemeineigentum überführt werden dürfen. Soll heißen: Antikapitalismus allein noch kein Beleg für umstürzlerisches Denken. In Dehms fünfbändiger Verfassungsschutz-Akte ist aber, nach Auskunft des Betroffenen, ständig davon die Rede, dass er vorschlägt, die Deutsche Bank zu verstaatlichen. So what.

Gerade bei Parlamentariern hätte der Verfassungsschutz solche Bedenken intensiv zu wägen. Denn frei gewählte Abgeordnete sind Volksvertreter, deren Aufgabe es ist, die Regierung - und damit auch den Verfassungsschutz - zu kontrollieren. Aktuell läuft es jedoch umgekehrt. Ein besonders krasser Fall: Der Linke Steffen Bockhahn ist Mitglied im Vertrauensgremium, das die Budgets der Geheimdienste prüft, und wird gleichzeitig vom Verfassungsschutz beobachtet. Wer kontrolliert hier eigentlich wen? Und ist das noch mit der Gewaltenteilung vereinbar?

Unterm Strich doppelt blamiert

Friedrich spielte solche prinzipiellen Einwände mit dem Hinweis herunter, die Abgeordneten der Linken würden ja nur "beobachtet", der Verfassungsschutz sammele also nur öffentlich zugängliches Material, Zeitungsartikel und dergleichen, und setze keine nachrichtendienstlichen Mittel ein. Gysi, der in seinem Furor dem Verfassungsschutz vorwarf, er sei "ballaballa" und ein "Pfeifenverein", bezweifelte das. In seiner Akte seien zahlreiche Seiten geschwärzt oder schlicht herausgenommen worden. Eine Kopie der Akte, die stern.de vorliegt, bestätigt das. Auf zahlreichen Blättern steht einfach nur: "Gemäß Sperrerklärung der Akte entnommen". Zudem haben sieben Landesverfassungsschutzämtern bereits eingeräumt, sehr wohl nachrichtendienstlich zu observieren. Möglich, dass deren Ergebnisse auch in der Akte Gysi gelandet sind.

Unterm Strich hat sich der Verfassungsschutz doppelt blamiert, das räumt selbst die Regierungsseite ein: die Blutspur der "Zwickauer Zelle" übersehen, bei der Linken die Falschen beobachtet. Das einzige, was sie erreicht hat: Die Linke, ein zutiefst zerstrittener Haufen, ist sich kurzzeitig einig und darf sich als Opfer fühlen. Einen Verfassungsschutz, der solche Ergebnisse zeitigt, braucht kein Mensch.stern