Für einen türkischen Freund, der ein Kurde war

Mehmet hatte ich in einem türkischen Restaurant in der Brabanterstraße kennengelernt, in das ich oft nach Feierabend ging, um eine Linsensuppe zu essen, über die ich den Saft von frischen Zitronenscheiben träufelte. Dazu bestellte ich mir immer einen Ayran, der in dieser Zeit neben Kaffee mein Lieblingsgetränk war. Der Ayran wurde dort direkt in einem viereckigen Glasgefäß, in dem sich ein Rührstab drehte, zubereitetet und darin gekühlt. Heute wird der Ayran in den meisten türkischen Restaurants durch den fertigen in Plastikbechern abgefüllten Supermarkt-Ayran ersetzt, der meistens wässrig und laff schmeckt. Nicht mehr so angenehm sämig und an heißen Sommertagen durststillend die Kehle herunter rinnend.

Nach der Suppe und dem Ayran ging ich dann ins „Café Mischmasch“, das sich zwei Häuser vor dem Restaurant daneben befand. Bald machten wir es uns zur Gewohnheit uns dort zu treffen. Mehmet war spindeldürr, trug einen Schnäuzer, der für sein Gesicht fast zu groß war. Ebenso trug er meistens ein für ihn viel zu weites und dunkles, doppelreihiges Jackett, das ihm am Körper herunterhing. Mehmet war ein unglaublich feiner Mensch in allem, was er machte, in seinen Bewegungen und auch wie er Deutsch sprach. Er machte eine sehr schwere Arbeit in der Kabelfabrik Felten & Guilleaume. Ich vermochte mir gar nicht vorzustellen, dass er so dünn und schmächtig wie er war, mit armdicken Telefonkabeln hantierte.

Es waren oft belanglose und entspannende Gespräche, die wir dort nach Feierabend führten. Eines Tages klärte er mich darüber auf, dass er Kurde und kein Türke sei. Ich hatte damals mit 32 Jahren wirklich noch keine Ahnung. Natürlich hatte ich etwas von Kurden und PKK gehört und gelesen, dass sie in der Türkei wohnten, auch von den Kämpfen mit der türkischen Regierung und kannte die Fotos von kurdischen Kämpfern aus der Presse. Erinnerte mich an den Militärputsch von 1980 und an die Grauen Wölfe. Das war aber glaube ich schon fast alles. Ich hatte mich nie eingehender damit beschäftigt. Damals hatte es bei mir noch einige Jahre gedauert, bis ich erfasste, was es bedeutete in der Türkei sowie den angrenzenden Siedlungsgebieten, Syrien, Irak und Iran Teil einer Volksgruppe zu sein.

Für mich war Mehmet ein türkischer Freund, der auch ein Kurde war, er hatte ja auch auch gar nichts gemein mit den Fotos von schwer bewaffneten kurdischen Kämpfern, die 1984 nach dem Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK in den Medien zu sehen waren. Eines Tages fragte er, ob ich ihm ein Transparent für eine Demonstration malen könne. Er dachte, weil ich Drucker sei, könne ich wohl auch Schriften malen. Ich sagte zu und beim nächsten Treffen brachte er ein Betttuch, Farben und Pinsel Größen mit. Zu Hause machte ich mich dann an die Arbeit und fotografierte mich dann, glaube ich, selbst dabei. Aber ich weis es nicht mehr so genau, wie dieses Foto entstand. Auf jeden Fall war ich nicht sehr zufrieden mit meiner Arbeit, hoffte aber, dass das Transparent während der Demonstration seinen Zweck erfüllen würde. Mehmet bedankte sich ohne große Worte mit einem Tee für meine Arbeit. Die Demonstration sollte wohl ein paar Tage später sein.

Ohne große Worte, das war es, was ich an ihm mochte. Mehmet bemühte sich immer das richtige Wort auf Deutsch zu finden und meistens fand er es. Das gab ihm eine ans Erhabene grenzende Festigkeit seiner Stimme, wie ich sie selten bei einem Menschen erlebt hatte.

Ich hatte Mehmet danach mehrere Wochen nicht mehr gesehen. Eines Abends, es war schon spät im Herbst kam er dann wieder in das türkische Restaurant. Es schien mir als wäre er noch schmächtiger geworden und er schien mir auch ernster als sonst. Im Café sagte er, dass er gekommen sei, um sich von mir zu verabschieden. Er wolle zurück in die Türkei. Dort werde er heiraten. Die Sätze schienen ihm gar nicht leicht zu fallen. Für jemand der sich anschickte zu heiraten eigentlich viel zu traurig. Ich fragte, weshalb er seine Braut nicht nach Deutschland bringen wolle.

„Nein, nein“,

meinte er,

„meine Kinder sollen in der Heimat aufwachsen.“

Ich glaube er vermied bewusst zu sagen, sie sollen in der Türkei aufwachsen oder gar in dem neuen unabhängigen Kurdistan, für das die PKK damals kämpfte. Aber ich war mir sicher, dass er auch diesmal das richtige Wort gefunden hatte: „Heimat.“

Mehmet musste eine Menge gelesen haben. Er hat mir nie erzählt, was er alles gelesen hatte, aber nie hörte ich bei ihm ein Zitat heraus, wie es oft bei Menschen geschieht, die viel Lesen und dann mehr oder weniger bewusst, manchmal aber auch kokett und eitel, den von sich gegebenen Satz als die eigene intellektuelle Leistung verstanden wissen wollen. „Er redet wie ein Buch“ heißt es dann. Bei Mehmet wandelte sich aber alles Gelesene in etwas gänzlich Neues. Es drang ein in die Welt, aus der er kam. Und vielleicht hatte er auch diesen Satz bei Ernst Bloch gelesen, jenen letzten Teil des Satzes, aus dem ‘Das Prinzip Hoffnung‘: “… so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Ganz sicher ist, so scheint mir heute, wusste er, dass es noch ein langer Weg sein würde, seine Kinder dorthin zu bringen. Und er ahnte sicherlich auch, dass er als Kämpfer für sein kurdisches Volk und seine kurdische Heimat niemals dort ankommen wird. Wo immer seine Frau, seine Kinder und er heute sind. Ich hoffe es geht ihnen gut.

Jürgen Rompf , 9. Oktober 2014

Foto: Jürgen Rompf 1984 in Köln, Ehrenfeld. Beim Malen eines Transparentes für einen kurdischen Freund, der Mitglied der Arbeiterorganisation KKDA war.